Bolivien

Thiago lernt laufen

21.11.2016

Im Osten Boliviens führen die Steyler Missionare das Erbe der Entwicklungshelferin Irmgard Prestel fort - und engagieren sich für Menschen mit Behinderung.

Pater Michael Heinz mit Thiago. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Pater Michael Heinz mit Thiago. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Meist liegt ganz schön viel Testosteron in der Luft, im Casa San José - dem Jungeninternat der Steyler Missionare im bolivianischen San Ignacio. Nur wenn Thiago auf seinem Bobbycar um die Ecke biegt, ändert sich das schlagartig. Dann mutieren die 14 coolen Jungs im Internat plötzlich zu 14 angeschmiegsamen Teddybären, die sich für keine Blödelei zu schade sind. Thiago, der zweijährige Sohn der Internatsleiterin Trifonia Rogas Andia, steckt an: Mit seiner guten Laune, seinem kehligen Lachen. 

Thiago ist ein besonderes Kind, denn das Chromosom 21 ist in jeder seiner Körperzellen dreimal vorhanden. "Als wir erfahren haben, dass Thiago das Down-Syndrom hat, ist für uns erst mal eine Welt zusammengebrochen", erinnert sich seine Mutter. "Heute leben wir völlig selbstverständlich mit seiner Behinderung, freuen uns, dass er so ein fröhliches Kind ist. Wir sind glücklich über jeden Fortschritt, den er macht."

230 Kinder und Jugendliche in San Ignacio profitieren von FASSIV. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
230 Kinder und Jugendliche in San Ignacio profitieren von FASSIV. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Dass Thiago inzwischen so rasant mit seinem Bobbycar unterwegs ist, liegt auch daran, dass seine Mutter mit ihm regelmäßig das Therapiezentrum von FASSIV besucht. Die "Fundación de Ayuda Social San Ignacio de Velasco", eine Sozialstiftung für Menschen mit Behinderung, liegt nur wenige Gehminuten vom Internat entfernt. Zweimal in der Woche entspannt Thiago hier im Bällebad, nachdem eine Therapeutin zuvor auf spielerische Weise seine motorischen Fähigkeiten gefördert hat. Inzwischen sind viele Bewegungsabläufe, die Thiago noch vor wenigen Monaten vor eine große Herausforderung gestellt haben, flüssig und selbstverständlich geworden. "Wir sind guter Hoffnung, dass er bald ohne Hilfe laufen kann", sagt seine Mutter.

FASSIV ist nicht nur für Thiago ein Segen. 230 Kinder und Jugendliche in San Ignacio profitieren von der Einrichtung - und in einer "Zweigstelle" in der benachbarten Kleinstadt San Miguel werden noch einmal 65 Kinder betreut und gefördert. Gründerin der Stiftung ist die inzwischen verstorbene, österreichische Entwicklungshelferin Irmgard Prestel. 1956 kam sie nach Bolivien, um sich im ärmsten Land Südamerikas als Sozialarbeiterin fortzubilden. Aus den wenigen Monaten, die ihr Aufenthalt vor Ort ursprünglich bleiben sollte, wurde ein halbes Jahrhundert: "Mutti Prestel", wie man sie bald in San Ignacio nannte, baute Haushaltsschulen für Indio-Mädchen - und gründete vor Ort ihre eigene Familie. Insgesamt zehn Kinder zog sie mir ihrem bolivianischen Mann groß.

Blick in die Nähwerkstatt der Sozialstiftung. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Blick in die Nähwerkstatt der Sozialstiftung. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Nach ihrer Pensionierung 1992 setzte Irmgard Prestel den Fokus ihres Engagements insbesondere auf Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung - und rief FASSIV ins Leben. Eines der ersten Kinder, das von ihrer Hilfe profitierte, war die fünfjährige Mercedes - ein Mädchen mit einem missgebildeten Fuß. Ihre ersten Lebensjahre hatte Mercedes größtenteils auf dem erdigen Fußboden ihres Elternhauses zugebracht. Sie sprach nicht, sie lachte nicht. Im Zentrum von FASSIV bekam sie ihre ersten Gehhilfen, machte ihre ersten Schritte. Später wurde ihr Fuß operiert, Mercedes bekam eine Prothese, die regelmäßig angepasst wurde. Sie lernte damit laufen und spielen wie andere Kinder.

Kurz vor ihrem Tod machte sich Irmgard Prestel 88-jährig auf die Suche nach verantwortungsvollen Händen, in die sie ihr Lebenswerk legen könnte. Ihre Wahl fiel auf die Steyler Missionare. "Es war uns eine große Ehre, das Projekt zu übernehmen", sagt Pater Michael Heinz, der Provinzial der Steyler in Bolivien. "Denn es passt gut zu unserem weltweiten Engagement für die gesellschaftlich Ausgegrenzten. Im Umkreis von 250 Kilometern ist FASSIV die einzige Einrichtung, die sich um Menschen mit einer Behinderung sorgt."

Im Orchester von FASSIV musizieren Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam. (Foto: Achim Hehn/SVD).
Im Orchester von FASSIV musizieren Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam. (Foto: Achim Hehn/SVD).

Eine Lobby haben diese Menschen in Bolivien schwer nötig. Konsequente Therapien ihrer Kinder können sich viele betroffene Eltern nicht leisten. Die Folge: Geistig wie körperlich behinderte Kinder werden von der Familie vernachlässigt und vom Rest der Gesellschaft versteckt. "Das ist brutal", findet Pater Heinz und berichtet vom Fall eines geistig behinderten Mädchens, das jahrelang von ihrem eigenen Vater vergewaltigt worden war. "Wir bringen so etwas sofort zur Anzeige", sagt der Steyler Missionar. Jede Therapiemaßnahme von FASSIV werde von verpflichtendem Unterricht für die Eltern begleitet. "Damit sichergestellt wird, dass sich zu Hause angemessen gekümmert wird."

Die Sorge der 42 Angestellten von FASSIV geht über eine reine medizinische Versorgung der Kinder und Jugendlichen hinaus. "Jeder soll bei uns eine sinnvolle Aufgabe für sich finden", sagt Pater Michael Heinz - und macht einen Rundgang durch die Werkstätten der Einrichtung. In einem der Räume ist die 15-jährige Lipzy Ramos gerade dabei, Tischdecken, Servietten und Kochschürzen zu bemalen. "Anfangs ist Lipzy auf die Grundschule gegangen und hat etwas Lesen und Rechnen gelernt", erzählt Pater Heinz. "Aber wegen ihrer geistigen Behinderung ist sie über das erste Schuljahr nicht hinaus gekommen. Man hat ihr empfohlen, eine Ausbildung zu machen - und so hat sie bei uns angefangen." Geleitet wird die Stoffdruckerei, in der konstant die Nähmaschinen rattern, von der taubstummen Eva Maria. Verständlich macht sie sich schriftlich oder mit Handzeichen.

Schlüsselanhänger, Rosenkränze, Ledertaschen: In den Werkstätten von FASSIV stellen die Jugendlichen Produkte her, die man in einem kleinen Laden am Eingang kaufen kann. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Schlüsselanhänger, Rosenkränze, Ledertaschen: In den Werkstätten von FASSIV stellen die Jugendlichen Produkte her, die man in einem kleinen Laden am Eingang kaufen kann. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Alle Erzeugnisse aus den FASSIV-Werkstätten kann man in einem kleinen Laden am Eingang kaufen. So auch die kleinen Schlüsselanhänger aus Holz, die der 16-jährige, geistig behinderte Luis gerade an einer Drechsel vorbereitet. Luis weiß aber nicht nur mit Hammer und Hobel, sondern auch mit dem Geigenbogen umzugehen. Begeistert sitzt er am Nachmittag in der Probe des FASSIV-Orchesters, in dem behinderte und nicht-behinderte Musiker gemeinsam miteinander musizieren.

"Auch das ist uns enorm wichtig: Die Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung", sagt Pater Michael Heinz, während die jugendlichen Musiker "Freude schöner Götterfunken" anstimmen. "Unser inklusives Orchester führt die Kinder durch Musik zusammen und baut Berührungsängste ab." Auch bei Konzerten in der Bischofskirche von San Ignacio ist das FASSIV-Orchester regelmäßig dabei - und längst zum Aushängeschild für eine Stiftung geworden, die sich in der Region seit 26 Jahren für die Gleichstellung behinderter Menschen einsetzt. 

Einer ihrer jüngsten Schützlinge heißt Thiago und fährt gern Bobbycar. Und kann bald laufen.

Markus Frädrich

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