Indien

„Die Kinder motivieren mich, über mich hinauszuwachsen“

01.12.2017

Pater Alwin Mascarenhas engagiert sich im indischen Pregnapur für Menschen, die das HI-Virus in sich tragen.

Im indischen Pregnapur betreuen die Steyler Missionare HI-infizierte Kinder, Erwachsene und Aidswaisen. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Im indischen Pregnapur betreuen die Steyler Missionare HI-infizierte Kinder, Erwachsene und Aidswaisen. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Auch Missionare stehen gelegentlich mit dem linken Fuß zuerst auf. „Es gibt Tage, da rege ich mich über jede Kleinigkeit auf“, sagt Pater Alwin Mascarenhas. „Bevor meine Laune schlechter und schlechter wird, gehe ich dann zu ‚meinen Kindern‘. Keine Minute vergeht, und sie haben mich mit ihrer Lebensfreude angesteckt. Eine Freude, die ihre dramatischen Geschichten vergessen macht.“

Da ist die Geschichte von Anji, der mit fünf Jahren ins „Arnold Childrens Home“ kam. Seine Eltern nahmen sich das Leben, als sie entdeckten, dass sie und ihr Sohn das HI-Virus in sich tragen. Da ist die Geschichte von Kushal, heute 13 Jahre alt, den ein staatliches Kinderheim vor die Tür setzte, als die Verantwortlichen von seiner Immunschwäche erfuhren. Spooja ist heute ein hübsches Mädchen mit zwei frechen Zöpfen und dunklen, geheimnisvollen Augen. Sie tanzt gern, aber am liebsten malt sie Bilder, auf denen Blumen blühen, ein Regenbogen leuchtet und Bäume Kirchen tragen. Vor einigen Jahren noch, als man sie ins Kinderheim brachte, war sie abgemagert, schmutzig, verwahrlost.

Manche Patienten hören zuhause auf, ihre Medizin zu nehmen. Dann kommen Sie erneut zu den Steyler Missionaren, um behandelt zu werden. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Manche Patienten hören zuhause auf, ihre Medizin zu nehmen. Dann kommen Sie erneut zu den Steyler Missionaren, um behandelt zu werden. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Als Pater Alwin Mascarenhas vor sechs Jahren nach Pregnapur kam, eine Kleinstadt im indischen Bundesstaat Telangana, waren sechs HI-infizierte Kinder in der Obhut der Steyler Missionare. Inzwischen sind es 35 Mädchen und Jungen, die im Sozialzentrum „Asha Jyothi“ – zu Deutsch: Ort der Hoffnung – ein neues Zuhause gefunden haben. Das kleinste Kind ist gerade mal zweieinhalb Jahre. Das älteste 19.

Pater Alwin, 37 Jahre alt, ist sichtlich stolz auf seine Schützlinge. „Am meisten beeindruckt mich, wie glücklich sie sind, bei allem, was sie in ihren jungen Jahren durchgemacht haben“, sagt er. „Das motiviert auch mich, immer wieder über mich hinauszuwachsen. Diese Kinder sind völlig unverschuldet in diese Situation geraten. Deshalb brauchen sie die beste Unterstützung, die wir ihnen bieten können.“

Nur durch die Hilfe der Steyler Missionare hat die heute zwölfjährige Srilenha überlebt. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Nur durch die Hilfe der Steyler Missionare hat die heute zwölfjährige Srilenha überlebt. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Heute Morgen sitzt Pater Alwin mit Srilenha in der blaugrünen Schaukel auf dem Hof des Kinderheims. Nachdem ihre Eltern an Aids gestorben waren, flüchtete Srilenha zunächst zur Familie ihres Onkels. Doch dessen Frau weigerte sich, sie aufzunehmen. Als Srilenha bei ihren Großeltern Unterschlupf suchte, überschütteten diese sie mit heißem Wasser, beschimpften sie.

Als man sie im April 2014 zu Pater Alwin brachte, war sie nur noch Haut und Knochen. Ihre Arme waren so dünn, dass die Ärzte im Krankenhaus keine Vene finden konnten, um eine Infusion zu legen. Man stellte fest, dass Srilenhas Mutter sie mit dem HI-Virus angesteckt hatte. Außerdem litt sie an Tuberkulose. Ihr Zustand schien hoffnungslos. Die Ärzte winkten ab.

Doch Pater Alwin und sein Team gaben nicht auf. Fütterten das Mädchen mit getrockneten Früchten, weil sie nichts anderes in sich behalten konnte. Lasen ihr vor. Versorgten sie mit den nötigen Medikamenten. Und langsam, ganz langsam verbesserte sich Srilenhas Zustand wieder.

Heute ist sie zwölf Jahre alt – und dankbar, dass es ihr gesundheitlich gut geht. „Ich habe hier alles, was ich mir immer gewünscht habe“, sagt sie. „Gute Kleidung, zu Essen, Freunde.“ Wenn sie mit der Schule fertig ist, will Srilenha Polizistin werden.

Zur Arbeit der Steyler Missionare gehört auch, die Lokalbevölkerung aufzuklären, was bei der Körperhygiene zu beachten ist und wie man sich vor Krankheiten und Infektionen schützen kann. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Zur Arbeit der Steyler Missionare gehört auch, die Lokalbevölkerung aufzuklären, was bei der Körperhygiene zu beachten ist und wie man sich vor Krankheiten und Infektionen schützen kann. (Foto: Achim Hehn/SVD)

„Srilenhas Geschichte zeigt, dass man nie aufgeben darf. Jeder Mensch hat das Recht, zu leben“, sagt Pater Mascarenhas entschieden, während er in die benachbarte Krankenstation von „Asha Jyothi“ geht. HI-Infizierte aus den umliegenden Städten und Dörfern suchen hier Zuflucht. Obwohl die Zahl der Infizierten im gesamten Staat in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist, die indische Regierung 2013 deshalb sogar alle staatlichen Fördermittel für Nichtregierungsorganisationen wie „Asha Jyothi“ gestrichen hat: Mit 2,1 Millionen Betroffenen ist Indien das Land mit der drittgrößten HIV-Epidemie der Welt. Im Distrikt Medak, in dem das Zentrum liegt, sind über 12.000 Menschen infiziert.

Die zwanzig Betten im Zentrum sind ständig belegt. Um manche Patienten steht es so schlecht, dass sie sich nur noch aufs Sterben vorbereiten. Zwei bis drei Tote beerdigt Pater Alwin jedes Jahr. Andere erholen sich gut, wie etwa der 33-jährige Srinivas, der die friedliche und freundliche Atmosphäre der Einrichtung lobt. „Leider sind viele Patienten wiederholt bei uns zu Gast, weil sie nach ihrer Entlassung zu Hause keine weitere Pflege erfahren“, sagt Pater Alwin. „Manche hören auch aus Naivität auf, ihre Medizin nehmen, weil sie sich gesund fühlen. Bei uns sollen sie sich trotzdem immer willkommen und angenommen fühlen.“

Auch HI-infizierte Kinder werden betreut. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Auch HI-infizierte Kinder werden betreut. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Die Hilfe der Steyler ist umfassend: Neben den Aidswaisen und Patienten auf dem Campus betreuen die Missionare zusätzlich HI-infizierte Kinder und Erwachsene, die zu Hause bei ihren Familien wohnen. So lange es die staatlichen Fördergelder zuließen, hat sich „Asha Jyothi“ erfolgreich im Bereich der Prävention von Mutter-Kind-Übertragungen engagiert. Präventiv wirken auch Steyler Theater- und Musikprogramme, die die Lokalbevölkerung auf unterhaltsame Weise darüber aufklären, was man bei der Körperhygiene beachten sollte und wie man sich vor Krankheiten und Infektionen schützen kann. „Ein Theaterabend bewirkt mehr als fünf trockene Vorträge“, sagt Pater Alwin. „Wir vermitteln, was die Schule oft versäumt. Sexuelle Aufklärung bleibt in indischen Klassenzimmern oft auf der Strecke.“

Pater Alwin, gebürtig aus Bangalore, hat mit „Asha Jyothi“ seine Bestimmung gefunden. Eigentlich wollte er immer Seelsorger in einer Pfarrei werden. Sozialarbeit kann jeder, dachte er. Bis er im Rahmen seiner Ausbildung nach Pregnapur kam und bald wusste: „Das ist die Arbeit von der Jesus möchte, dass ich sie mache. Ich möchte eine Gesellschaft mitgestalten, in der Aids keine Rolle mehr spielt.“

Die zwanzig Betten im Zentrum sind ständig belegt. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Die zwanzig Betten im Zentrum sind ständig belegt. (Foto: Achim Hehn/SVD)

Als Direktor von „Asha Jyothi“ ist er heute überzeugt: Christus selbst hat ihm und seinen Helfern den Auftrag gegeben, für die Ausgegrenzten und Stigmatisierten von Pregnapur da zu sein. „Jesus hat nicht nur gepredigt, er hat auch Kranke geheilt“, sagt er. „Wir können Gott nicht gerecht werden, indem wir die Beichte abnehmen, aber unsere Mitmenschen links liegen lassen.“ Die beiden Linien des christlichen Kreuzes verkörpern für ihn genau diesen Auftrag. „Die vertikale Linie weist auf unser Verhältnis zu Gott hin. Zu einem Kreuz vereint sie sich aber erst durch die Horizontale, die uns zu einem guten und gerechten Miteinander einlädt.“

Es ist diese Philosophie, die Pater Alwin nach dem Mittagessen seinen Wagen starten lässt. Srilenha und die anderen Kinder winken dem Steyler Missionar hinterher. Sein Nachmittagstermin führt ihn in einen der kleinen Orte rund um Pregnapur. Dort wartet die Dorfbevölkerung auf den „Divine Word Social Service“, eine mobile Krankenstation der Steyler Missionare, die kostenfreie ärztliche Behandlung anbietet, Sehhilfen verteilt und alte Menschen pflegt. Pater Alwin ist sieben Tage in der Woche für Menschen da ist, die mit Aids leben. Aber auch die Gesundheit der anderen Menschen liegt ihm am Herzen. Unabhängig von ihren Leiden. Unabhängig von ihrem Glauben. „Wir sind alle Kinder Gottes“, sagt er.

Mit 2,1 Millionen Betroffenen ist Indien das Land mit der drittgrößten HIV-Epidemie der Welt. Pater Alwin nimmt sich Zeit für jeden Patienten. (Foto: Achim Hehn/SVD)zoom
Mit 2,1 Millionen Betroffenen ist Indien das Land mit der drittgrößten HIV-Epidemie der Welt. Pater Alwin nimmt sich Zeit für jeden Patienten. (Foto: Achim Hehn/SVD)
Markus Frädrich
 
Melanie Pies-Kalkum

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